Upcycling – Das Märchen vom blauen Knopf, der kein blauer Knopf mehr sein wollte
Unsere Zeit ist eine, in der sich die Menschen hierzulande leisten können, liebgewonnene Erinnerungsstücke upzucyceln, während das Upcyceln andernorts notgedrungen ist. Es ist die Zeit vom Überfluss hier und vom Mangel dort. Dies ist eins der Märchen, das man vielleicht über unsere Zeit erzählen wird. Es ist Zeugnis unserer Zeit, Zeugnis unseres Tuns und Lassens, Zeugnis unserer Werte und Wertschätzung.
Es war einmal an einem Tag mitten im Sommer, da lief eine Frau in einer himmelblauen Bluse mit wolkenweißen Tupfen über die Straße. Ihre Bluse hatte sechs blaue Knöpfe, die alle mit einem hellblauen Faden festgenäht waren. Alle bis auf einen. Der zweite Knopf von oben, der nahe dem Herzen der Frau saß und es sogar pochen hören konnte, hing lose an dem blauen Faden, mit dem er einst angenäht worden war. Und mit jedem schwungvollen Schritt, den die Frau machte, lockerte sich sein Halt. Die Frau hatte es offensichtlich sehr eilig, sie sah immer wieder auf das Display ihres Smartphones, während sie durch die Straßen der Stadt lief. Nach jedem Blick auf das Telefon lief sie noch etwas schneller. Der lose Knopf schwang immer heftiger im Takt der Schritte und als die Frau in den Laufschritt wechselte, um einen Moment später lachend und weinend zugleich in die Arme eines Mannes zu fallen, tropfte eine ihrer Tränen auf den Faden des losen Knopfes. Das machte den Faden glatt wie eine Schlittschuhbahn, auf der der lose Knopf rutschte und rutschte und rutschte. Als der Mann die Frau mit der Tupfenbluse dann auch noch anhob und lachend um sich selbst herumschwang, flog der Knopf in hohem Bogen vom Ende des Fadens herunter, landete hochkant auf dem Gehsteig und rollte so schnell Richtung Bordsteinkante, dass ihm ganz schwindelig wurde. Auch der Frau mit der Tupfenbluse war vom Drehen ganz schwindelig, und wohl auch vor Freude und Glück über das Treffen mit dem Mann, so dass sie den blauen Knopf zunächst gar nicht vermisste. Der hüpfte auf die Straße und rollte im Rinnstein weiter, bis er in einen dunklen Gulli fiel und vom Wasserstrom darin mitgerissen wurde.
Wer glaubt, dass der blaue Knopf seine Reise mit Angst und Bangen fortführte, dem sei gesagt: Der blaue Knopf hatte schon lange Zeit auf dieses Abenteuer gewartet. Er wartete zuerst in einer Reihe gleich aussehender Blusen aufgebügelt in einem Laden. Um seinen Hals war das Preisschild gewickelt, bis die Frau es entfernte. Dann wartete er auf einem Kleiderbügel im Kleiderschrank der Frau, bis sie seine Bluse herausfischte und anzog. Immer mal wieder. Doch neben ihm gab es viele andere Blusen in allen Farben und Formen, so dass er nicht allzu oft das Tageslicht gesehen hatte. Und seine Ausflüge endeten jedesmal in der Waschmaschine, die ihn spülte, einseifte, spülte und schleuderte, bis ihm Hören und Sehen verging. Der blaue Knopf hatte bereits zweimal gesehen, dass ein Stück Stoff der Frau mit einem Knopf weniger wieder zurück in den Schrank kam. Und so hoffte er, dass seine Zeit bald kommen möge. Und er wartete und wartete.
Und deshalb war es kein Angstschrei, sondern ein Schrei der Freude, der ihm entsprang, als er mit dem Wasser durch die Kanalisation der Stadt bis in den Fluss schwamm, der weit vor der Stadt ins große blaue Meer mündete. Und weil der blaue Knopf aus Plastik war, schwamm er weiter auf den Meereswellen, bis er im Maul einer Schildkröte landete, die ihn für Futter hielt. Im dunklen Magen des Tieres ging seine Reise lange Zeit weiter und weiter. Die Schildkröte schwamm und schwamm und schwamm, bis sie an einem fernen Meeresstrand an Land ging. Der Mond leuchtete über den Strand, auf dem schon etliche andere Schildkröten Löcher in den noch vom Sonnentag warmen Sand gruben, um darin Hunderte Eier abzulegen. Anschließend ging die Schildkröte zurück ins Meer und schwamm los. Doch sie war vom Lochbaufbuddeln im Sand, Eierlegen und Lochwiederzubuddeln erschöpft und verfing sich in einem Fischernetz. Das hielten die Hände eines alten Mannes. Er war erfreut über seinen Fang und trug die Schildkröte zufrieden heim. Dort warteten viele hungrige Mäuler auf das Fleisch der Schildkröte. Sie wurde lebendigen Leibes ins kochende Wasser geworfen, wo sie qualvoll endete. Sie starb ohne einen Schmerzensschrei von sich zu geben, still und leise, wie es Schildkröten tun, wenn die Menschen sie so töten. Dank der warmen Schildkrötensuppe ging die Familie des Fischers an diesem Abend einmal nicht hungernd zu Bett.
Des Fischers Frau fand am dritten Tag, als die Suppe alle wurde, am Boden ihres verbeulten Topfes einen kleinen, blauen Plastikknopf. Sie rieb ihn an ihrem schäbigen Kleid, dessen Farben vom langen Tragen und häufigen Waschen bis zur Unkenntlichkeit ausgeblichen waren, und steckte ihn dann in eine Pappschachtel, in der sie Nadel und Faden hütete, mit denen sie die Lumpen ihrer Familie immer und immer wieder bis zum Gehtnichtmehr zusammenflickte.
Währenddessen hatte die Frau mit der Tupfenbluse den Verlust ihres blauen Knopfes sehr wohl bemerkt. Doch sie vergoss darüber keine Träne. Sie wusch die Bluse ein letztes Mal und hängte sie zuhinterst in ihren Schrank. Jahre später fand sie sie dort wieder. Der Anblick der fast in Vergessenheit geratenen Tupfenbluse trieb der Frau Tränen in die Augen: Diese Bluse hatte die Frau das letzte Mal an dem Tag getragen, als ihr Mann um ihre Hand angehalten hatte. Mit der Erinnerung an diesen strahlenden Sommertag fiel der Frau auch wieder ein, warum sie die Bluse in den Schrank verbannt hatte. Ein fehlender Knopf war der Grund dafür, die Bluse nicht mehr zu tragen. Wehmütig entschied die Frau, sich nicht von der Bluse zu trennen, sondern sie als Erinnerungsstück aufzubewahren. Und so hing die Tupfenbluse weitere Jahre im Schrank der Frau. Bis zu dem Tag, als eine ihrer Enkeltöchter sie beim Spiel dort entdeckte und Gefallen an dem getupften Stoff fand. Sie bat ihre Großmutter um die Bluse. Die erinnerte sich wieder an das Kleidungsstück, gleichwohl die Erinnerung mit der Zeit wie das Himmelblau des Stoffes verblasst war. Mit Tränen in den Augen erzählte sie ihrer Enkeltochter die Geschichte der Tupfenbluse. Das Kind hörte aufmerksam zu und fasste einen Entschluss. Es trug die Bluse heim und nähte dort daraus einen Kissenbezug. Dazu schnitt es den unteren Teil unterhalb der Achseln ab und nähte die Schnittkannte wie den Saum zu. Die Knopfleiste bildete so die Öffnung der Kissenhülle. Ihre Näharbeit filmte das Mädchen und zeigte das DIY-Video auf youTube, wo es von Menschen auf der ganzen Welt gesehen und für mögenswert befunden wurde. Das Video verbreitete sich wie ein Lauffeuer um die Welt und regte viele zum Nachahmen an. Den fertigen Kissenbezug brachte das Mädchen zurück zu seiner Großmutter, die fortan jeden Abend ihr Haupt darauf bettete und mit dem Gedanken an den Tag im Sommer lächelnd einschlief.
Und der kleine blaue Knopf? Der lag ewig in der kleinen, dunklen Pappschachtel. Nach langer, langer Zeit öffnete sich der Deckel der Schachtel und das eindringende Licht blendete den blauen Knopf. Dann fischten ihn zwei Finger heraus und wendeten ihn vor und zurück, vor und zurück. Sie trugen ihn anschließend zu einem wackligen Holztisch, auf dem ein zerschlissenes Püppchen aus Stoffresten lag. Die Finger hielten ihn an das Gesicht des Püppchens. Dann wurde er mit sicherem Stich angenäht. Als Auge. Neben ihm saß bereits ein anderes Knopfauge. Man begrüßte einander. Und dann begann die schönste Zeit des Knopflebens: Das Püppchen wurde einem kleinen Mädchen in der Fischerhütte geschenkt. Es freute sich darüber und herzte und küsste das Spielzeug immer und immer wieder. Und trennte sich zeitlebens nicht mehr davon. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.
Sind das die Märchen, die man einst über unsere Zeit weitererzählen wird? Vom Upcycling der Erinnerung halber oder aus der Not heraus? Ich weiß es nicht.
Genauso gut wie die Frau ihre Tupfenbluse aufbewahrte, hätte sie sie auch in die Altkleidersammlung geben können. Dann wäre die Bluse mit dem fehlenden blauen Knopf vielleicht in einem Container mit zig anderen Altkleidern in einen Schiffsrumpf verladen und in den Hafen nahe der Fischerhütte verschifft worden. Und vielleicht hätte die Fischerfrau sie eines Tages an einem Marktstand gekauft und lächelnd heimgetragen, weil sie wusste, dass sie genau den fehlenden Knopf in ihrer pappenen Schatzkiste hatte. Und weil sie sich sonst nur billige, minderwertige Sachen leisten konnte, hätte sie die gute Secondhand-Bluse mehr als wertgeschätzt und bis zu ihrem Zerfall getragen. Oder sie hätte sie angehabt, als sie mit ihrer Familie vor dem Krieg flüchtete, im alten Fischerboot übers weite Meer. Und vielleicht hätte die Frau der geflohenen Fischersfrau, die eine Bluse anhatte, wie sie sie einst auch trug, eines Tages in ihrer Stadt gegenübergestanden und ihr verwundert hinterhergeschaut und sich gefragt, ob das womöglich ein und dieselbe Bluse war. Denn wer weiß schon, wohin die Altkleider kommen, wenn man sie aussortiert.
Diese Märchenverläufe wären unserer Realität ebenso gerecht geworden wie der obige. Allerdings hätte der blaue Knopf dann kein Happyend erlebt. Und darum geht’s ja im Märchen: Das Gute besiegt das Böse. Doch Gut und Böse lassen sich heute nicht immer auf den ersten Blick erkennen: Ist es der Frau vorzuwerfen, dass sie so viele Blusen im Schrank hat, dass sie die himmelblaue mit den wolkenweißen Tupfen nicht mal vermisst? Ist es schon Gier, die die Kleiderschränke überquellen lässt? Oder ist es eine Ersatzbefriedigung? Fragen über Fragen, denen wir uns stellen müssen. Je eher, desto besser.
Ein paar Fakten zum Märchen:
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